DER LÄUFER

Intention

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Interview mit Regisseur Hannes Baumgartner

Was hat Sie dazu bewogen, in Ihrem Erstlingsfilm die Geschichte eines Serientäters zu erzählen?
Die Ambivalenz und die Zerrissenheit des realen Täters haben mich von Anfang an beschäftigt: Einerseits seine brutale, zielgerichtete Gewalt, andererseits seine gesellschaftlich vorbildliche Integration – ein Spitzensportler und beliebter Koch. Ein Mensch, der von seinem Umfeld immer wieder als sehr sensibel, pflichtbewusst und hilfsbereit beschrieben wird. Diese Widersprüchlichkeit hat mich herausgefordert, hinter die Fassade dieses Menschen zu blicken.

Und wieso erzählen Sie den Film ausschliesslich aus der Sicht des Täters?
Die Täterperspektive ermöglicht eine direkte Auseinandersetzung mit der ambivalenten Hauptfigur. Mich interessiert ihr Prozess der Abkapselung: Wie sich ein Mensch trotz möglicher Hilfe von aussen immer weiter in die Isolation treibt, wie er keinen Weg findet, seinen gewaltigen inneren Leidensdruck in Worte zu fassen. Der Film soll zeigen, wie die Hauptfigur verzweifelt versucht, diesen immensen inneren Druck durch Sport, Arbeit und Beziehung zu verdrängen – und wie sie durch diesen Verdrängungsprozess zum Gewalttäter wird.

DER LÄUFER basiert auf einer wahren Geschichte. Wie viel der Handlung im Film ist wahr, wie viel Fiktion?
Der Film ist eine subjektive Interpretation des realen Falls. Der Fokus liegt auf einer möglichst wahrhaftigen Abbildung der emotionalen Entwicklung und nicht auf einer objektiven Nacherzählung der Fakten. Mir geht es um den emotionalen Prozess von Jonas’ innerer Isolierung, seine grosse Leere und tiefe Verzweiflung. In diesem Sinne haben wir uns im Film die künstlerische Freiheit genommen, den wahren Fall zu verdichten und an einzelnen Stellen um fiktive Elemente zu ergänzen. Um die betroffenen Personen zu schützen und uns einen gestalterischen Freiraum zu schaffen, haben wir sämtliche Namen geändert und die Geschichte von den frühen Nullerjahren ins Heute verlegt.

Der Film ist sehr beobachtend und Sie verzichten darauf, eine abschliessende Erklärung für die Taten zu liefern. Wieso?
Ich denke, dass es für viele Menschen ein Bedürfnis ist, für solch brutale Taten eine plausible Erklärung zu finden: Das Schreckliche soll nicht länger unerklärbar bleiben. Im Laufe unserer mehrjährigen Recherche musste ich jedoch feststellen, dass sich das tragische Verhalten unserer Hauptfigur nicht monokausal begründen lässt. Es gibt eine Vielzahl von Ursachen, die ineinandergreifen: Die Vergangenheit spielt ebenso eine Rolle wie Jonas’ enormes Bedürfnis nach Zuneigung sowie seine Unfähigkeit, seine Innenwelt und seine Gefühle mitzuteilen. Der Film versucht dieses Netz von Ursachen und deren Wechselwirkung zu zeigen – ohne es definitiv entwirren zu können. Ziel ist es, den Zuschauer zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Hintergrund von Gewalttaten herauszufordern.

Was spielt der Bruder Philipp für eine Rolle in der tragischen Entwicklung vom Spitzensportler zum Mörder?
Der Bruder ist die zentrale Bezugsperson. Er ist der einzige Mensch, mit dem Jonas das Schicksal seiner Kindheit teilt und der Jonas’ Innenleben zumindest ansatzweise verstehen kann. Mit Philipps Suizid verliert Jonas einen bedeutenden Teil seiner eigenen Identität. Philipps Auftauchen im Film ist aber auch immer eine Konfrontation mit Jonas’ eigener dunklen Seite: Der Bruder erinnert ihn an die traumatische Kindheit und fördert Scham, Aggression und Verzweiflung an die Oberfläche.

Welchen Stellenwert hat der Sport für die Hauptfigur?
Der Sport ist für Jonas ein wichtiges Ventil, um mit seiner Frustration, seiner Enttäuschung und seiner inneren Leere umzugehen. Und der sportliche Erfolg stützt und bestätigt ihn in seiner Suche nach Anerkennung und Aufmerksamkeit. Gleichzeitig wird der Sport zur Fassade: Die Stabilität, die Jonas durch seine sportliche Karriere nach aussen vermittelt, gibt ihm paradoxerweise eine Aura des Unantastbaren – einem erfolgreichen Spitzensportler werden keine tiefgreifenden Probleme zugetraut.

Sie haben über fünf Jahre an Ihrem Erstlingswerk gearbeitet und sich intensiv mit der Psychologie des realen Täters auseinandergesetzt. Empfinden Sie Empathie für ihn?
Es gibt viele tragische Elemente in seiner Biografie, die mich getroffen haben. Seine traumatische Kindheit oder sein ständiger Kampf für soziale und gesellschaftliche Integration sind nur zwei Beispiele. Gleichzeitig war mir bei der Auseinandersetzung mit seinen Gewalttaten das Wahren von Distanz sehr wichtig. Ein erschütterndes Merkmal seiner Psychologie war ja auch die Unfähigkeit, seine Taten einzuordnen. Er zeigte wenig Gespür für die Auswirkungen und Konsequenzen seiner Taten. Diese Ambivalenz von Empathie und Ablehnung hat die Recherche und den Entstehungsprozess immer begleitet.

Was entgegnen Sie dem möglichen Vorwurf, dass Sie mit Ihrem Film einem Mörder eine Plattform bieten?
Gewalt ist eine gesellschaftliche Realität, weshalb ich es als zentral erachte, sich differenziert mit ihr auseinanderzusetzen. DER LÄUFER ist keine Legitimation von Gewalttaten, sondern versucht zu verstehen, wie sie entstehen. Eine aktive Auseinandersetzung ist der erste Schritt, dem wichtigen Thema zu begegnen.

Ein wichtiger Aspekt der von ihnen gewünschten Auseinandersetzung wird zurzeit intensiv diskutiert: Der Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt. Ihre Hauptfigur Jonas übernimmt die Dominanz über seine weiblichen Opfer. Inwiefern haben seine Gewalttaten mit seiner Männlichkeit zu tun?
Ich muss vorausschicken, dass wir die Arbeit am Film vor sechs Jahren begonnen haben und von dort aus nicht auf heute aktuelle Debatten wie #MeToo zielen konnten. Aber es ist klar: Der Zusammenhang zwischen Gewalt und Bildern von Männlichkeit besteht. In diesem Kontext bewegt sich auch Jonas.

Jonas lebt ja nach aussen ein Bild von starker Männlichkeit...
...absolut. Gerade als Spitzensportler, und dann auch noch in einer ungewöhnlichen Sportart wie Waffenlauf, wo stets ein Gewehr auf dem Rücken mitgetragen wird, obwohl es ja gar nicht zum Einsatz kommt. Als Spitzensportler kann Jonas also ein starkes Männerbild verkörpern. Er hat Durchhalte- und Siegeswille und bekommt dafür Anerkennung. In seinem Privatleben und in seinem Arbeitsumfeld komplettiert er sein öffentliches Bild, indem er den pflichtbewussten, hilfsbereiten und bescheidenen jungen Mann verkörpert. Alle Kraft wird im Aussen versammelt und steht im grossen Kontrast zu seinem Inneren: Zwischen dem äusseren und dem inneren Jonas scheint es keine Verbindung zu geben.

Und die Frauen in seinem Leben?
Äusserlich ist er auch mit ihnen verbunden, etwa mit seiner Adoptivmutter und seiner Freundin. Aber zu seiner innersten Erfahrungswelt haben die Frauen keinen Zugang. Sein Innerstes kennt eigentlich nur ein Mensch: sein Bruder Philipp. Die beiden teilen das Kindheitstrauma, den frühkindlichen Existenzkampf. Die Vernachlässigung der leiblichen Eltern war so gross, dass Jonas mit vier Jahren nicht laufen konnte, während Philipp mit sechs Jahren noch nicht sprach. Daraus entsteht ein fundamentales Abgeschnittensein von der Welt. Beide Brüder reagieren darauf letztlich mit Aggression und Gewalt. Der ältere richtet sie nach innen und nimmt sich selbst das Leben. Der jüngere – Jonas – richtet sie nach aussen und tötet letztlich eine ihm unbekannte Frau.

Warum greift er nur Frauen an?
Ich bin kein Psychologe. Aber ich habe mich bei der Recherche und beim Schreiben intensiv mit der Psyche der Figur befasst. Ich glaube, die Suche nach einem Ausweg aus seiner inneren Leere und Qual ist für Jonas – wenn auch diffus – mit einer Frau verknüpft. Sie steht für seine Sehnsucht nach Rettung, nach jemandem, der ihn versteht, der seinen Druck und seine innere Leere auflösen könnte. So sind es in seinem Umfeld denn auch hauptsächlich Frauen, mit denen er einer Beziehungsebene pflegt und denen er sich ansatzweise zu öffnen versucht. Die Männer sind für ihn ganz anders aufgeladen: Mit ihnen misst er sich sportlich. In seiner überhöhten Vorstellung, eine Frau könne ihn retten, geht Jonas immer direkter und wahlloser auf Frauen zu. Da ihm jedoch selbst nicht klar ist, wie die Frauen sein Problem lösen könnten, bleibt diese Suche eine Sackgasse. Fast ausschliesslich provoziert er Ablehnung, was seine Frustration und Verzweiflung steigert. Die ihn ablehnenden Frauen werden zum Ziel seiner aufgestauten Wut.

Inwiefern verändert die neue feministische Welle Ideologien von Männlichkeit und die Konstruktion einer männlichen Geschlechtsidentität?
Diese Bewegung hat eine neue, wichtige Diskussion ausgelöst. Viele Männer lehnen diese Auseinandersetzung jedoch reflexartig ab. Ich finde, wir sollten uns darauf einlassen. Gerade aus dem Blickwinkel unseres Films wäre vor allem eine Diskussion unter Männern wichtig. Insbesondere zu akzeptieren und zu verstehen, dass zur männlichen Identitätsfindung auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen gehört. Wenn der Film dazu etwas beitragen könnte, würde ich das sehr begrüssen.

Wieso haben junge Männer oft Schwierigkeiten, die eigenen Emotionen zu kommunizieren und zu kontrollieren?
Eine wichtige Rolle spielen sicher Erziehung und Bildung, der gesellschaftliche Kontext und Normen. Wie lerne ich, mit Emotionen umzugehen? Welche Vorbilder habe ich? In meinem privaten Umfeld erlebe ich immer noch einige Männer, die bei einem offenen Gespräch über sich selbst befürchten, ihr Gesicht zu verlieren. Wir haben im Film versucht, einen Menschen zu zeigen, der mit seinem fragilen Selbstvertrauen ständig auf der Suche nach Anerkennung ist und der mit Ablehnung schwer umgehen kann. Weil er seine Emotionen nicht kontrollieren kann, versucht er seine Opfer zu dominieren. Die Unfähigkeit, mit den eigenen Emotionen umzugehen, wird kompensiert. Bei Jonas steigert sich das Kompensieren im Laufe des Films bis zum Mord.